Beschreibung
PHILIPP die Maus Ausgabe 10/2023
So ist das halt in Europa, im Kleinen wie im Großen: Hiesige Selbstverständlichkeiten stoßen anderswo auf Befremden und Unverständnis. Wobei auch kleine Dinge relativ groß sein können; wir sprechen gerade über Schultüten. Für die Kinder im deutschen Sprachraum sind sie, wohlgefüllt mit Trösterchen, ein weithin sichtbares Symbol für die feierliche Eröffnung eines neuen Lebensabschnittes. Und natürlich schleppen auch der kleine Bär und seine Freunde (in der Geschichte von Berti Bär auf Seite 38) ihre Schultüten am ersten Schultag mit.
Kleine Franzosen kennen diese komischen, bunten und hochgewachsenen Behältnisse nicht. Sie wandern ganz profan ins Klassenzimmer; ohne viel Aufhebens abgeliefert vor dem Schultor und dort noch von den Müttern getröstet, allerdings mit Küsschen und ohne Leckereien.
Und die anderen Nachbarländer? Alles schultütenfreie Zonen, mit der bezeichnenden Ausnahme mancher ehemals deutschsprachigen Gebiete in Böhmen und Mähren. Dass die Briten auch hier eigene Schulwege gehen, nimmt da noch am wenigsten Wunder.
Warum dieser hübsche deutsche Brauch sich so widerständig gegen jede Art der Europäisierung zeigt, hat vermutlich einen tieferen Grund. Andere pädagogische Traditionen ziehen nicht diese scharfe Grenze zwischen Kindergarten und Schule, zwischen Spielen und Lernen. Der Eintritt in die Schule (und damit in den sogenannten Ernst des Lebens) wird in anderen Ländern nicht als Zäsur empfunden, der Übergang von Kindergarten zu Vorschule und Schule ist fließend und zieht sich über Jahre hinweg. Es gibt nicht diesen absoluten Schuleintrittstag, diesen Bruch im Leben der Kinder, den es in besonderer Weise zu feiern gibt. Um ein schiefes Bild für eine durchaus ernsthafte Sache zu verwenden: Die Schultüte ist die Spitze des Eisbergs, unter dem die massiven Unterschiede beispielsweise zwischen dem deutschen und französischen Bildungssystemen verborgen liegen.
Erfunden wurde die seinerzeitige „Zuckertüte“ (damals galten Zuckerstücke offenbar noch als Leckerei) übrigens vor 200 Jahren in Sachsen und breitete sich langsam, doch machtvoll aus. In Österreich kam sie verspätet an, pikanterweise im Jahr 1938 mit dem Anschluss an das Deutsche Reich und damit an dessen Schulwesen. (Man ist fast geneigt, sich eine Deutsche Reichsschultütenkammer, Abteilung Ostmark, vorzustellen.) Mit der Wiederherstellung Österreichs nach Kriegsende und der Abkehr von „reichsdeutschen“ Überfremdungen verlor sich die Spur der Schultüte, bis sie vor einer Generation erneut Anschluss fand. Anders übrigens als in der Schweiz, wo die „deutsche“ Schultüte wohl noch geraume Zeit auf verlorenem Posten stehen wird.